Etikettentrinker, das ist ganz offensichtlich zweideutig gemeint.
Da sind einerseits die Trinker gemeint, die Fotos ihrer letzten Verkostung posten mit allen Premier Grand Crus Classés der Jahrgänge 1990, 1989, 1982, 1975, 1961, 1955, 1945, 1929, 1900 und 1899. Natürlich alle an einem Abend getrunken, mit großem Genuss bis zum letzten Tropfen aus der letzten Flasche. Und die natürlich nicht vergessen darauf hinzuweisen, dass unter den großen Jahrgängen der 61er einfach unterschätzt ist.
Eine ganz nette Modifikation ist der Etikettentrinker, der Fotos postet, wie das obige, mit exzellent Weinen, aber nicht ganz so großen Namen, wobei er dezent darauf hinweist, dass natürlich der 1928er Petrus und schon gar nicht der 1811er d’Yquem, getrunken dann und dann, bisher nicht getoppt wurde. Natürlich ohne Foto.
Ich habe mich entschlossen, Etikettentrinker fast wörtlich zu nehmen. Manche Etiketten sind einfach zu auffällig. Man kommt an den Flaschen nicht vorbei, ohne zumindest einen Blick auf sie zu werfen. Von schreiend bunt bis zu aufreizenden Namen in überdimensionierten Buchstaben, es gibt mittlerweile alles.
Und es gibt die schönen Etiketten, alte, neue, einfach nur schöne und die witzigen, intelligenten. Dieses hier ist eines meiner Lieblingsetiketten, wunderschön, witzig und intelligent zugleich:
Es lohnt sich genauer hinzuschauen. Fast klassisch die Vignette mit dem Sternen übersätem Nachthimmel über dem Kloster Saint-Mont und einem Weinberg. Das Kloster gibt es immer noch, obwohl es während der französischen Revolution säkularisiert und verkauft wurde. Saint-Mont liegt malerisch auf einem Felsvorsprung über dem Fluss Adour in der Gascogne. Erbaut wurde das Kloster auf den Resten einer römischen Siedlung, die ihrerseits auf ein keltisches Oppidium zurückgeht. Der Ort hat also Geschichte. Saint-Mont war eine Station auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela.
Das Kloster wurde von cluniazensischen Benediktinern bewirtschaftet. Wein haben die Mönche sicher getrunken, es ist aber höchst unwahrscheinlich, dass sie auf ihren Flaschenetiketten – so sie denn welche gehabt hätten – zwei bildhübsche, barbusige Damen abbilden würden. Alles allegorisch natürlich, die beiden Damen sind gar keine Damen, sondern Engel, haben sie doch Flügel aufzuweisen. Komisch nur, dass deren zentrale Mitte züchtig verhüllt ist und zudem in ein schuppiges Unterteil ausläuft, das eher an Meerjungfrauen, denn an Engel erinnert. Das Schwanzende sieht außerdem so gar nicht nach Flosse aus, es erinnert an Eichenlaub.
Bleibt zu erwähnen, dass der Wein trotz seiner 14.5% zwar ordentlich Kraft, aber auch eine gewisse Eleganz aufzuweisen hatte. Eine typische Cuvée der Region, überwiegend aus Tannat. Der Wein machte seinem wunderschönen Etikett alle Ehre!
Text und Fotos: Joachim A. J. Kaiser